27. Mai 2016

Vor-Ort-Begehung in der Polenzstraße, Zwickau: „An Marschner kam man nicht vorbei“

In den kommenden drei Sitzungswochen werden wir uns im NSU-Untersuchungsausschuss intensiv mit dem Komplex um den ehemaligen V-Mann des Bundesverfassungsschutz Ralf Marschner, auch bekannt unter „Manole“, „Mono“, „Primus“ oder „Irrländer“, beschäftigen. Der Frage, wie nah und in welcher Beziehung er dem Trio stand, werden wir uns durch Akteneinsicht und Zeugenbefragungen nähern. Um zusätzlich ein genaueres Bild des Umfelds von Marschner und anderen Neonazis in und um Zwickau zu bekommen, haben Petra Pau und ich uns mit verschiedenen Initiativen in Plauen und Zwickau getroffen und ihre Ortskenntnis und Einschätzungen eingeholt.

Wir hören davon, wie es ist sich in einem Umfeld für Geflüchtete zu engagieren, indem Androhung von Gewalt und Einschüchterung der eigenen Kinder die Konsequenz ist. Wir hören von Polizist*innen, die nicht das Gefühl vermitteln, ausreichend vor dieser Bedrohung zu schützen. Wir hören die Namen verschiedener rechter Kader, die sich sowohl an rechten Aktionen beteiligen und gleichzeitig Bündnisse organisieren, die versuchen einen bürgerlichen Anstrich zu wahren. Die sich wiederholenden Namen, Vorfälle und rechten Gruppen, die Horte der Radikalisierung bilden, ergeben Kontinuitäten, die sich von den 90ern über die Selbstenttarnung des NSU-Trios bis heute ziehen. Am Ende dieses Tages wird es mir schwer fallen zu glauben, dass sich Marschner und das Trio nicht kannten.

Wir stellen die Autos auf einem Parkplatz in der Nähe der Erdgeschosswohnung in der Polenzstraße 2 ab. Dort hat das Trio sieben Jahre lang gelebt. Auf dem Weg zur Wohnung passieren wir Menschen, die rechte Marken tragen und parkende Autos, deren Heckscheiben Parolen wie „Todesstrafe für Kinderschänder“ zieren. In den folgenden Gesprächen mit Initiativen, wie dem „Runden Tisch für Zivilcourage“ in Plauen und der Künstlergruppe „Grass Lifter“ in Zwickau wird uns bestätigt: Was wir sehen, gehört zur akzeptierten Normalität, statt provozierende Ausnahmen zu bilden. Eine junge Frau erzählt uns, dass sie in Chemnitz immer zehn Minuten länger für ihre Wege einplant. Weil sie so viele Nazi-Sticker in der Stadt entfernen muss.

Wir laufen die Polenzstraße ab und lassen sie auf uns wirken. Hier lebte das Trio, schräg gegenüber eines Freundes und ehemaligen Angestellten Marschners. Er und Beate Zschäpe überfielen 2001 unter anderem mit der späteren Frau André Emingers, Susann Eminger, die Kneipe „Big Twin“. Es sind unter anderem diese Eskalationen rechter Gewalt, in denen Marschner als Anführer im Hintergrund auftritt, die ihm einen falschen Respekt einbringen. Ob man wollte oder nicht: an dem einflussreichen Neonazi-Hooligan kam man nicht vorbei. In seiner ehemaligen Kneipe, dem „White Trash“ war das Bier so billig, dass es ein breites Publikum anzog. Für Neonazis und sonstige Rassist*innen ist er ein wichtiger Anlaufpunkt. Er verkauft rechte Musik, organisiert Szene-Konzerte. Er schenkt seinen Kameraden gerne mal ein paar neue Schuhe. Für alle anderen war er ein Mann, dem man besser nicht in die Quere kam. Dennoch beschreibt das Wirken dieser Person keinen im Untergrund oder in nur in Szene-Zusammenhängen verkehrende Neonazi, sondern einen stadtbekannten Mann. Er bekommt Aufträge für sein Abrissunternehmen und betreibt Läden in bester Innenstadtlage.

Dass Zschäpe vermeintlich bei ihm gearbeitet haben soll oder mindestens dort verkehrt hat, passt ins Bild dieses öffentlichen Untertauchens. Zwar mit falschen Papieren und unter anderem Namen, jedoch nicht inkognito agierte das Trio und hatten offensichtlich wenig zu befürchten. Eben weil ein Marschner, aus Kalkül oder Unfähigkeit keiner war, der seine Steuer ordentlich machte, jeden Mitarbeiter sozialversicherungspflichtig führte oder als vertrauenswürdiger Geschäftspartner galt, ist es fraglich, wie weit sich die genauen Kennverhältnisse zum Trio über Akteneinsicht klären lässt. Deshalb müssen wir zusätzlich das Wissen der Menschen einbeziehen, die dort lebten und leben. Aus diesem Grund werden Sachverständige eine wichtige Quelle der Aufklärung im Komplex Marschner spielen. Sie helfen uns dabei die Orte und Aktionen einzuordnen, die von Marschner und seinen Kameraden von „HoNaRa“ (Hooligans-Nationalisten-Rassisten) und „Blood&Honour“ ausgingen. Je mehr man ranzoomt, desto mehr Verstrickungen kommen zum Vorschein, die kein Bild einer anonymen Stadt zeichnen, sondern ein dichtes Netz an zusammenhängenden Verstrickungen. Diese Einsichten werden uns mit der Frage konfrontieren, wie realistisch es ist davon auszugehen, dass Neonazis, deren komplette Lebenswelt auf ihre Ideologie ausgerichtet ist und die in denselben Kneipen, Läden, Konzerten und Demonstrationen verkehrten, sich nicht gekannt haben sollen.